DER ERWEITERTE BLICK – DAS MARTA HERFORD SETZT NEUE MASSSTÄBE IN DER MUSEUMSWELT
TEXT: CORNELIA BRELOWSKI
Als international ausgerichtetes Museum für zeitgenössische Kunst mit besonderem Bezug zu Architektur und Design stellt das Marta Herford seit 2005 zeitgenössische Strömungen in einem spektakulären Museumsbau aus. Seit Februar 2022 wurde mit einem Wechsel der Leitung der Fokus auf die aktuellen Themen Weibliche Perspektiven und Globale Digitalisierung neu justiert.
Umwerfende Architektur
Als moderner Museumsbau gilt das Marta als eine der ungewöhnlichsten Konstruktionen weltweit. Erschaffen vom renommierten US-amerikanischen Stararchitekten Frank Gehry fällt das Gebäude zunächst hauptsächlich durch seine wogende Landschaft aus kubischen Backsteinelementen auf, die visuell in starkem Kontrast zum hellen Edelstahldach und dem weiß verputzten Gebäudekern stehen. Die schwingende Bewegung setzt sich als bewegtes Raumvolumen im Innern des Gebäudes fort. Die wellenartige Struktur des Gehry-Baus spiegelt dabei den Flussverlauf der nahegelegenen Aa, und umfasst neben den Galerien auch ein lichtdurchflutetes Café mit Außenterrasse am Wasser, sowie den Marta Museumsshop und ein Veranstaltungsforum.
Einmal eingetreten, erfahren Besucher*innen in der Lobby zunächst eine ganz andere Architektursprache aus geraden Linien und rechten Winkeln, denn Frank Gehry beließ den Kern des Gebäudes, ein ehemaliges Textilfabrikgebäude der Firma Ahlers von Architekt Walter Lippold, weitgehend unberührt. Erst beim Eintritt in die Gehry-Galerien nimmt die organische Bewegung der kippenden und fließenden Wände den Besucher wieder in ihre tänzerische Choreografie auf, und so verwandelt die Architektur jede Ausstellung in ein besonderes Raumerlebnis.
Neugierig, offen und experimentell
Das Marta Herford Museum ist ein Ort, an dem sich innovatives Denken und zukunftsweisende Kreativität mit Lebensfreude verbinden: „Hier treffen Fragen an die Gegenwart auf Ideen für Morgen.“ So befassen sich aktuelle Ausstellungen etwa mit den Themen Geschlechterverständnis und globale Digitalisierung im Wandel. Mit besonderem Blick auf die Bezüge zu Architektur und Design werden hier zeitgenössische Strömungen sichtbar gemacht, aktuelle gesellschaftliche Fragen ausgeleuchtet, sowie neue Ideen und Perspektiven vermittelt. Parallel zum Ausstellen und Vermitteln spielen auch das Sammeln und Bewahren sowie die Forschung eine starke Rolle im Marta Herford: „Dabei bleiben wir mit unserem Fokus auf zeitgenössische Strömungen und Entwicklungen immer neugierig, offen und experimentell. Die Vermittlung unserer Ideen nach außen wurzelt in einer regionalen Identität und basiert auf einer internationalen Vernetzung“, erklärt die neue Direktorin Kathleen Rahn, ehemals Leiterin des Kunstvereins Hannover.
Die Wurzel liegt in der Region
Herford galt schon Anfang des 20. Jahrhunderts als bedeutsamer Standort für die Möbelindustrie. Dieses Erbe und die höchst produktive und weltweit aktive, wirtschaftliche Struktur der Stadt brachte 1996 kreative Köpfe auf die Idee, ein unübersehbares Zeichen in der Region zu setzen. Grundgedanke dabei war die Zusammenführung von Kunst, Wirtschaft und Gesellschaft in einem spektakulären Gebäude. Mit dem Zuschlag für Architekt Frank Gehry sowie Jan Hoet als Gründungsdirektor war die Grundrichtung vorgegeben und am 07. Mai 2005 wurde das Marta Herford schließlich unter großem öffentlichem Interesse eröffnet. Geleitet wurde das Museum lange Jahre zunächst vom Kunstwissenschaftler und Ausstellungsmacher Roland Nachtigäller; im Februar 2022 übernahm Kathleen Rahn nach der Pandemiezeit die Direktion.
Zukunfts(-weisende) Pläne
Die neue Direktorin führte zunächst einige physische Maßnahmen am Gebäude durch, um die schwingende Gehry-Architektur noch direkter erfahrbar zu machen: „Mir war es wichtig, komplett auf Einbauten zu verzichten, um bereits hier die wunderbare Architektur zu nutzen und so wurden unter anderem einige gerade Wände entfernt, die 2005 vor die schönen Kurven gebaut wurden und seitdem hier stehen geblieben waren.“
Das neue Programm im Marta Herford steht seit 2022 für erweiterte Perspektiven auf die Gegenwart, und so schien es Kathleen Rahn mehr als logisch, zu ihrem Start sowohl die hauseigene Sammlung in den Gehry-Galerien auszubreiten, als auch einige Leihgaben mit Potential zu künftigem Ankauf zu präsentieren, um speziell die weiblichen Positionen in der Sammlung zu erweitern. Noch immer weisen weltweit zu viele der großen, internationalen Sammlungen einen geringen bis minimalen Anteil an Künstlerinnen auf – es gilt als eine der größeren Aufgaben der zeitgenössischen Kunstwelt, hier eine neue, repräsentativere Balance zu schaffen.
Seit der Gründung des Museums Marta Herford hatte es bis 2022 in den Gehry-Galerien nur wenige Einzelausstellungen von Künstler*innen gegeben. Dies wurde unter Kathleen Rahn als Direktorin nachhaltig geändert. Anfang des Jahres 2023 etwa zeigte die brasilianische Künstlerin Cinthia Marcelle ihre materialintensiven, raumgreifenden Installationen sowie bildgewaltige Videoarbeiten, in denen vertraute Rollenbilder aus den Angeln gehoben werden. Bis in den August hinein war zudem die renommierte Fotografin Annette Frick aus Berlin mit einer extrem gut besuchten Einzelausstellung zu Gast. Die Künstlerin porträtiert seit den frühen 1980er Jahren Szenen und Menschen der Subkultur sowie historisch aufgeladene Orte zwischen poetischer Ausdruckskraft und politischer Metaphorik. Im Marta Herford wurde die bis dato größte Museumsausstellung der Künstlerin gezeigt.
International anerkannte Künstler*innen mit Heimatsbezug
Die Lena Henke-Einzelausstellung „Good Year“ zeigt bis in das neue Jahr hinein eine große Rauminstallation, die Erinnerungen an die im Privaten reproduzierten Machtverhältnisse in Kleinfamilien widerspiegeln soll. – Netz oder Käfig? Klassische Markenbegleiter wie Braun, Miele oder auch Porsche und Aral sowie das eher männliche Ideal vom Ausbruch per Kraftfahrzeug stimulieren sowohl den Sehnerv als auch den Geruchssinn – olfaktorische Kindheitserinnerungen von Gerüchen wie Kartoffeln in heißem Fett, oder auch dampfender Asphalt und Benzingeruch lassen die Besucher*innen in ihre eigene Vergangenheit eintauchen und diese gleichzeitig mit kritischem Blick von außen betrachten. Lena Henke erhielt den Marta-Preis der Wemhöner Stiftung 2022, der zum fünften Mal vergeben wurde.
Bis in den Oktober 2023 hinein sorgt die Ausstellung „SHIFT – KI und eine zukünftige Gemeinschaft“ für eine gesamt-umfängliche Hinterfragung unserer schönen neuen Welt: KI-gesteuerte Prozesse nehmen schon heute teils unbemerkt Einfluss auf Politik und Gesellschaft. Marta strebt danach, diese von Künstler*innen sicht- und erfahrbar zu machen und dabei die Wahrnehmung zu schärfen. SHIFT steht hier für Übergang/Wechsel und unterstreicht die These, dass die Digitaltechnologie nachhaltig auch die Idee einer Gemeinschaft verändert. In der Gemeinschaftsausstellung mit dem Kunstmuseum Stuttgart stellen sich die Künstler*innen unter anderem der Frage nach einer neuen, positiven Perspektive auf das Zusammenspiel von Natur und Technik. Außerhalb der Galerien erfolgt die Vermittlung durch Vorträge und Workshops, etwa mit so klingenden Namen wie „Digitale Selbstverteidigung mit Digitalcourage“. (Crypto Café im Marta, 14.10.2023)
Neue Erfahrungsräume
Kathleen Rahn hat sowohl baulich als auch inhaltlich noch viel vor: „Frei nach dem Motto ‚Erweitere Deinen Blick‘ möchten wir in Zukunft offene Szenarien anbieten und auch das gesamte Haus im Sinne des Vorreiters der Erfahrungsräume, Alexander Dorner, als Kraftwerk bespielen.“ Das Café wurde in diesem Sinne hell umgestaltet und die zweite Etage des Altbaus wurde mit einem großen Atelier, einer öffentlichen Bibliothek sowie mehreren Arbeitsräumen barrierearm zugänglich ausgestattet.
Zum Thema Erfahrungsraum hat die Direktorin zudem einen Tipp, denn an windigen Tagen fängt das verschachtelte Marta Herford-Gebäude an, zu „singen“. Die Luft strömt durch die vielen, unsichtbaren Korridore und bringt so das vielschichtige Gebäude zum Erklingen: „Wir möchten das Haus als Resonanzkörper nutzen und gemeinsam mit Künstler*innen erfahrbar machen – das ist physisch, sinnlich, aber auch metaphorisch und inhaltlich gemeint.“ Passend dazu läuft bis in den Februar 2024 hinein die die internationale Gruppenausstellung „Long Gone, Still Here – Sound as Medium“. Sie ist Teil der programmatischen Neuausrichtung des Marta Herford, sich künftig als Ort synästhetischer Erfahrung zu positionieren. Im Mittelpunkt der Ausstellung stehen multisensorische Installationen, in denen sich Künstler*innen der menschlichen Erfahrung anhand des Hörens bzw. Nicht- oder Anders-Hörens widmen. Im Rahmen der Ausstellung begeht das Marta Herford zudem das 10-jährige Jubiläum mit dem Format „Marta philharmonisch“ – eine Kooperation mit der Nordwestdeutschen Philharmonie: Direktorin Kathleen Rahn hält, was sie verspricht.
Web: www.marta-herford.de
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